Was bedeutet Richtig-Schreiben-Können?

  • Hören und Wahrnehmen, welche Laute wir aussprechen.
  • Wissen, welche Laute wir (z.B. auf Hochdeutsch im Vergleich zu Bayrisch) nicht aussprechen: wir sagen „fegessen“ oder „Treka“, aber wissen, dass es in Wirklichkeit „vergessen“ und „Trecker“ ist. Die meisten Kinder verwenden anfangs die erste Option, weil sie es bis jetzt nur so gehört hatten. Sie müssen noch lernen, Wörter anders auszusprechen, damit sie die „fehlenden“ Laute hören können.
  • Zuordnen, in welcher Reihenfolge diese Laute stehen: welcher Laut kommt an erster, welcher an zweiter und dritter Stelle usw.
  • wissen, WIE diese Laute verschriftet werden, also welcher Laut entspricht welchem Buchstaben.
  • Einige Buchstaben sehen sehr ähnlich aus und müssen dennoch unterschieden werden: d-b, g-q-p, ck-ch usw..
  • Einige Buchstaben klingen sehr ähnlich und müssen dennoch unterschieden werden: p-b, g-k, d-t, s-ß, r-ch usw..
  • Das Kind muss weiterhin wissen, dass manchmal zwei Laute mit einem Buchstaben verschriftet werden können: z.B. ch in Wörtern wie lächeln und lachen oder st in Wörtern wie basteln und abstempeln. Oder umgekehrt – ähnliche Laute mit zwei Buchstaben: Karre und Kachel.
  • Wenn der Buchstabe dem Laut zugeordnet wurde, sein möglicher schriftlicher Ausdruck im Kopf hergestellt ist, muss das Kind die Konzentration behalten, bis die Hand dieses Bild in seinem Kopf aufs Papier gebracht hat! Der Übergang vom Denken zur handschriftlichen Tätigkeit dauert nur wenige Augenblicke. Aber während dieses Überganges kann es schon passieren, dass die ursprüngliche Schreibidee für den Laut vergessen wurde!
  • Für die Anwendung von Schreibregeln muss das Kind zuerst wissen, dass Regeln existieren und dass es auf sie achten muss. Wenn das Kind beispielsweise in der 1. Klasse gelernt hat, zu schreiben wie man hört, weiß es noch nicht, dass man das, was man hört, auch anders schreiben kann. Andererseits passiert es, dass Kinder eine Regel kennen, aber sie beim Schreiben ignorieren bzw. verdrängen oder vergessen.
  • Die Anwendung von Regeln verlangt vom Kind die Beherrschung besonderer Strategien. Eine davon ist, Fragen zum Gehörten zu stellen, z.B. Vergewisserungsfragen wie: Ist es n oder ng? Ist es i oder ie? Ist es p oder b? Ist es ein kurzes oder langes a oder o? Viele Kinder wissen nicht, dass es Gefahren an dieser Stelle geben kann und sie überprüfen müssen. Sie vergessen, einfach überhaupt Fragen zu stellen und schreiben spontan, ohne nachzudenken.
  • Auf diese Vergewisserungsfragen (lang-kurz, stimmhaft-stimmlos) müssen auch richtige Antworten folgen. Aber richtige Antworten kann sich das Kind nur dann geben, wenn es über eine gesunde akustische Differenzierungsfähigkeit verfügt. Wenn es die Grenzen zwischen einigen Lauten (z.B. k-g) nicht hört, kann es solche Vergewisserungsfragen nur zum Teil richtig anwenden. Das Ergebnis ist eine „falsche“ Schreibweise.
  • Um die richtige Antwort auf die Fragen richtig zu verschriften, muss das Kind die Regeln dazu richtig kennen. Wenn dies nicht der Fall ist, kann es passieren, dass Regeln verkehrt herum angewendet werden, was dann zu einem Schreibfehler führt: z.B. „nach einem kurzen Vokal schreibt man einen Mitlaut, nach einem langen – einen doppelten“(was umgekehrt sein müsste) oder „;verständlich’ kommt von ,verstehen’ (statt von verstanden).
  • Zur korrekten Anwendung von Schreibregeln gehört auch das Mitdenken der Möglichkeit, dass eine Ausnahme von ihr vorliegt.
  • Diese Ausnahmen muss das Kind auswendig kennen.
  • Nachdem ein Laut richtig verschriftet wurde, muss das Kind wieder sich daran erinnern, was für ein Wort es gerade schreiben will. Dies ist die Voraussetzung, um den nächsten Laut richtig herauszufinden und zu verschriftlichen. Viele Kinder befassen sich so intensiv mit dem Wortanfang, dass am Ende plötzlich etwas anderes dabei herauskommt. Z.B. Schwein statt Schwanz, nieder statt niedrig, nennen statt nennt usw.. Oder sie brechen einfach ab, weil es ihnen entfallen ist.
  • Dann muss das Kind wieder herausfinden, an welcher Stelle (bei welchem Laut) im Wort es aufgehört hat, das heißt, es beginnt das Wort wieder nach Lauten zu analysieren, um das selbe mit dem nächsten Laut auszuführen. An dieser Stelle darf das Kind sich nicht „vertun“, ansonst können sogar die Laute plötzlich fehlen, die es sonst wahrnehmen kann.
  • Beim ganzen Schreibprozess muss das Kind nicht nur das aktuelle Wort im Kopf korrekt speichern, sondern auch alle Regeln! Neben dem genauen Hinhören und Wahrnehmen von Lauten, was beim Deutschen an sich schon sehr kompliziert ist, muss das Kind außerdem noch Folgendes berücksichtigen:
  • Der Wortanfang kann groß oder klein geschrieben werden; dafür muss das Kind neben der Lautanalyse an die Wortart denken: Nomen oder nicht Nomen, Satzanfang oder nicht!
  • Am Wortanfang können noch Vorsilben oder andere Wortteile (bei zusammengesetzten Wörtern) stehen, die bestimmte Schreibweisen haben und die noch zwischen sich unterschieden werden (z.B. ent-end, ab, ver-fern-fertig), wobei es noch an die Bedeutung des Wortes denken muss;
  • Nach der Vorsilbe kommt der Wortstamm, auf dessen Hauptform es achten muss (z.B. Gelände->Land, Diebstahl=Dieb + stahl);
  • Der Wortstamm kann aber seine Form manchmal ändern: „nehmen, nahm, aber nimm“, „stehen, aber stand“;
  • Der Wortstamm kann auch mit einem Laut enden, der eigentlich anders geschrieben wird als man hört (z.B. Liebling). Um an dieser Stelle ableiten zu können, muss man an den Wortbau denken!
  • Nach dem Wortstamm kann es noch Nachsilben oder Endungen geben, die auch als solche identifiziert werden müssen (z.B. kalt und bellt) und an deren Schreibweise man sich erinnern muss.
  • Worte enden häufig mit einem undeutlichen Laut, der überprüft, d.h. abgeleitet oder verlängert werden muss.
  • Nachdem das Wort oder der Satz geschrieben ist, muss das Kind noch einmal ihn lesen und überprüfen, ob alles richtig ist. Dafür muss es natürlich wissen, dass es das Wort falsch geschrieben haben könnte und beim Lesen Fehler sich entdecken lassen.
  • Dafür muss es das falsch geschriebene Wort lesen können: Eben so wie es gerade geschrieben hat und nicht so wie es tatsächlich geschrieben wird.
  • Das Kind muss die Möglichkeit und Fähigkeit aufweisen, das selbst Geschriebene (Ist-Zustand) mit dem Zielwort (Soll-Zustand) zu vergleichen.
  • Bei der Fehlersuche muss das Kind wieder an alle Regeln denken, um herauszufinden, welche es angewendet hat und welche es vergessen hat usw.

Konnten Sie sich alles merken? Nein? Natürlich – ob Sie glauben oder nicht, das ALLES läuft bei Ihnen automatisch ab! Können Sie sich nicht mehr dran erinnern, wie Sie damals die einzelnen Schritte bewusst noch gelernt haben? Dann seien jetzt wirklich stolz auf sich, wenn Sie alles Beschriebene fehlerfrei ausführen – das Gehirn darf keinen dieser Schritte vernachlässigen!

Die Kinder mit Legasthenie oder Leserechtschreibschwäche müssen alles dies in der Therapie lernen!